Berlin Mitte meets Niederrhein

Carreras am Gendarmenmarkt - ein Kulturhummer für Feinschmecker aus Erkelenz, Ostwestfalen-Lippe und der Neuen Mitte

20 Uhr 15. Berlins neumittige Gourmets gönnen sich einen globalen Kulturhummer. Carreras am Gendarmenmarkt. Dazwischen Touristen, die sich auf so seltene Motive wie die Dome - deutsch wie französisch - stürzen, doch mehr noch auf die Freilichtbühne mit dem kleinen befrackten Kulturgut. Davor, in zwei großen Blöcken, Stuhlreihe für Stuhlreihe, eine seltsam heterogene Masse, den Blick starr auf die Bühne gerichtet. Dahinter erheben sich dicht gefüllt steile Tribünen mit skurriler Zeitgenossenschaft. Ringsum bieten adrette junge Menschen in weißen Zelten kulinarische Köstlichkeiten feil. Während das Orchester auf die Bühne strömt, taucht die untergehende Sonne die Szenerie in ein gleißend orangenes Licht. Die Masse klatscht.

Zwischen Ku'Damm und neue Mitte
Ansprache. Danksagungen. Vorstellung der Akteure des Abends. Das Spektakel beginnt. Auf der Karte steht ein Name: José Carreras, krönendes Dessertkonzert zum Abschluss der des diesjährigen Classic Open Air-Festivals. Das Publikum entsprechend. Hier die Abo-Fraktion, also die Herren mittleren Alters in blauen Sakkos mit unpassenden Hemden und noch weniger passenden Krawatten, begleitet von ihren Ku`Damm-Boutiquen-Gattinnen, dort die der neuen Mitte, Jungmanager im Business-Anzug und Sonnenbrille, die hektisch in die Innentasche ihres Sakkos greifen, als sie von der Bühne aus aufgerufen wird, ihre sonst so nützlichen Handys auszuschalten. Begleitet werden die Hoffnungsträger der deutschen Wirtschaft von aufgeschnatzten Drei-Wetter-Taft-Girlies mit grazilen Sonnenbrillen und sturmresistenten Wella-Beton-Frisuren. Und dann ist da natürlich noch die Touristenfraktion aus Ostwestfalen-Lippe, die immer schon einmal den "großen Carreras" hören wollte, und die ihre Freude, dies nun wirklich erleben zu dürfen, gleich lautstark zum Ausdruck bringt.

Abzocker, Nepper und Zaungäste
Es war Weihnachten 1992 - so glaube ich jedenfalls - als mir meine damalige Freundin eine CD schenkte. Sie hatte sie wiederum von ihren Großeltern , denn die meinten, so eine feine CD wäre doch vielleicht eher was für mich. So bekam ich sie also die Weihnachts-CD der Commerzbank Erkelenz mit den drei Tenören. Neun Jahre später sollte ich nun leibhaftig den Musikgeschmack der Commerzbank erleben. Ob es live besser sein würde als die CD? Ja und nein. Ja, weil es ein Unterschied ist, ob ein Tenor inmitten der Familie im elterlichen Wohnzimmer singt, während nebenbei ein zweijähriger Neffen im Flur unbedingt Fußball spielen will, oder ob man sich an einem lauschigen Sommerabend sanft berieseln lässt. Nein, weil es hier nicht nur einen Neffen, sondern eine ganze Banausenbande erwachsener Störenfriede gibt. Denn rings um den Gendarmenmarkt haben sie sich versammelt, die Abzocker, die Nepper, die - die Zaungäste.

Aus geöffneten Bürofenstern heraus, stehend auf Dachterrassen und in den angrenzenden Cafes sitzend klauen sie Töne, und produzieren im Gegenzug noch eine eigene Geräuschkulisse. Sie reden. Sie reden immer und unaufhörlich, und die Anlage ist zu schlapp, um sie von den Dächern zu blasen. Ganz im Gegensatz zur jungen Dame an der Seite von Carreras, die an Stelle der erkrankten Isabel Rey den weiblichen Sangespart übernimmt, und die Carreras fast von der Bühne singt. Niemand kennt sie, niemand erinnert sich an ihren Namen, aber wo Carreras sang, da brillierte sie.



Klassik goes Pop again
Pause. Bei Rotwein, Brezel und Pils fachsimpelt das Publikum wie am Stammtisch über Stimmen, Orchester und Ambiente. "Früher war seine Stimme auch schon mal ausdrucksvoller" dringt es an mein Ohr. Na ja, ich kenne ihn nur von dieser Weihnachts-CD aus Erkelenz, aber das kann ich natürlich nicht sagen. Also nicke ich verständig.
"Die Kleine ist fast besser als er", höre ich einen Herrn Ende fünfzig zu seiner schmuckbehängten Begleiterin sagen, während er mit einem Blick auf seine Rolex prüft, ob noch Zeit bleibt für ein weiteres Glas Rotwein. Er schafft es gerade noch rechzeitig. Auf der Bühne wird noch mal um Andacht gebeten, doch vergebens. Das Grundrauschen der Gratis-Logen schallt weiterhin über den Platz, nur zeitweise übertönt von einem Hubschrauber, der ein wenig über dem Platz kreist. Ein angereiftes Wella-Beton-Groupie gestikuliert zu allen Klassik-Hits wie ein Groupie, zu "Carmen" ganz besonders. Die Einlage einer einheimischen Rockband in der Zugabe ließ sie zwar kalt, aber Böses ahnen. Natürlich ging Classic dann auch an diesem Abend Pop. Und wie könnte es anders sein, es musste der ausgelutschteste, abgenudelste und unerträglichste aller Kuschel-Rock-Songs sein: Wind of Change - eine Qual für die Ohren.

Dennoch, ein interessanter Abend, ein akzeptables Konzert. Ruhig schlendere ich zum Wagen und denke an die Commerzbank Erkelenz. Dort, an den Schalter, dort dürfte es von gleichen Charakteren und Gewändern wimmeln wie heute hier. Berlin Mitte meets Niederrhein - und Ostwestfalen-Lippe.


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2003 Gerd M. Fuchs, Berlin