"The Golden Girls" - New York bitches
"Picture
it: Berlin Oktober 2002 ...". So in etwa würde eine Geschichte
von Sophia - grand dame der Golden Girls - beginnen. Diese nicht.
Aber Parallelen dieser Erlebnis-Story zu den Folgen der Golden Girls
sind dennoch erkennbar. Es ist der 16. Oktober, Berlin-Mitte, es
regnet. Das BKA Luftschloss läd zur Premiere einer neuen Show
zweier internationaler Künstler: Joey Arias und Sherry Vine.
Zwei Frauen. Nein, zwei Männer.
Der
Name der Show klingt vielversprechend: "Sinsation". Bevor
sich hier Missverständnisse einstellen, die irreparable Gesellschaftsschäden
hervorrufen: nein, das hat nichts mit Sinn, sondern vielmehr mit
Sünde zu tun. Ihr wisst schon, der Apfel, die Eva, das Paradies.
Die, die nicht da sind, sind es selber Schuld. Denn die Show hält,
was sie verspricht. Als sich der Vorhang hebt - der Vorhang konnte
sich nicht heben, weil es im BKA keinen gibt - treten zwei Männer
in Frauenkleidern vor das nicht allzu zahlreich erschienene Publikum.
Obwohl die wechselnden Kleider und Kostümperlen durchaus nicht
hässlich sind und dem geneigten Zuseher auch manch ein Hauch
von Nichts durchaus gewollt ins Auge fällt, es ist weniger
die Optik der Akteure, die uns ins BKA gelockt hat. Mich jedenfalls
nicht, denn ich bin nicht Zielgruppe, sondern nur interessiert.
Es sind vielmehr und vor allem die Stimmen der beiden Transen, deren
Qualität hochgelobt ist und auch am heutigen Abend deutlich
zu Tage triit. Man sagt beiden dies- und jenseits des großen
Teiches stimmliche Qualitäten zwischen Aretha Franklin, Billie
Holiday und Liza Minelli nach - kann ich nur bestätigen.
Topstars
der US-Travestieszene
Arias & Vine - angekündigt als "die unbestrittenen
Topstars der US-Travestieszene" begeistern die meist schwule
Klientel des Abends in erster Linie mit Songs, die an den Broadway
und das Amerika der 30er Jahre erinnern mit seinen verruchten Clubs,
Strip-Shows und zwielichtigen Persönlichkeiten. Stephan, der
nette Schwule aus dem Publikum hat zudem das Vergnügen, die
Joey´s Zunge näher spüren zu dürfen. Gut, dass
ich nicht so weit vorne saß. Aber Pressekarten entstammen
meist nun mal nicht der teuersten Kategorie.
Nicht
nur wegen dieser Szene habe ich den Eindruck, dass Joey Arias irgendwie
etwas von Blanche hat, dieser männermordenden Südstaaten-Schönheit,
die mit ihren Eskapaden die anderen drei Frauen der beliebten US-Fernsehserie
gerne immer wieder in Aufregung versetzt. Figürlich kann und
mag ich da aber keinen Vergleich ziehen. Und Sherry Vine mischt
in meinen Augen die oberflächliche Unschuld von Dorothy mit
dem naiven Esprit von Rose - auf den ersten Blick jedenfalls. Aber
ich mag mich irren. Hier fühle ich mich besser nicht tiefer
in die Materie ein. Geschmacklich völlig unbeurteilt möchte
ich dann auch den musikalisch und kompositorisch bekannten und geschätzten
Gert Thumser lassen, der, gehüllt in rosa Anzug und rosa Oberhemd
den beiden am Piano durchaus einfühlsam die Begleitung macht.
Man sagt: zwei Zentner Gefühl. Mag sein. Aber wie gesagt -
Optik doesn´t count that much!
Vokal
landen die Protagonisten meines Diaspora-Abends als ausgewiesene
Hete einen Volltreffer: das Programm der beiden Drag Queens ist
erste Sahne, wenn ihr versteht, was ich meine. Das liegt vor allem
daran, dass beide über wohl ausgebildete Stimmen verfügen.
Arias und Vine zelebrieren jedes ihrer Duette und Soli mit all ihrem
hinreißenden Pathos, selbstverständlich nicht ohne zwischen
den Songs spitzzüngig Sex und Spott zu versprühen. Natürlich
fehlt auch der obligatorische Barabara (Steisand) - Song nicht im
Programm. Ist doch klar, selbst ich als Hete habe damit gerechnet.
Sie sind halt wirkliche Drag Queens - New York Bitches.
Wonderful
bitches
Beide
sind im übrigen in Berlin und auch in Deutschland keine unbeschriebenen
Blätter. Von verstört oder mit gebrochenem Herzen zurückgelassenen
Lovern mal abgesehen haben Sie nicht zuletzt bei diversen CSD-Veranstaltungen
und bei weiteren Auftritten in Köln, Hamburg und Berlin bleibende
Eindrücke hinterlassen. In Berlin sah man sie in der Bar jeder
Vernunft letzten Herbst beispielsweise oder erst letzte Woche im
SO36. Aber das ist mir ja eigentlich auch egal. Ich finde die Songs
klasse und die Art, wie die beiden Transen "performen".
Das ist in Zeiten schlapper Regierungserklärungen, kultureller
Haushaltslöcher und verregneter Herbsttage Balsam auch für
meine Seele! Zwischendurch becircen die Drag Queen Mums Joey und
Sherry ihr Auditorium immer wieder mit frechen Moderationen, anzüglichen
Gags und eben - wie im Fall von Stephan - mit langanhaltenden Zungenküssen.
Mein Abend bewegte sich - unbehelligt von fremden Körperflüssigkeiten
- zwischen totalem Ablachen über die richtig geile Show und
ehrfürchtigem Lauschen der Sing-Stimmen der beiden! Bitches
- you are wonderful!
Das
Engagement der beiden gegen AIDS ist da dann auch mehr als nur eine
Randnotiz, sondern Teil von beachtlichen Karrieren, die sicher auch
eine längere Story wert sind. Leider nicht unter dem Titel
"Golden Girls" - aber das macht ja nichts. Es war jedenfalls
ein Abend, an den man sich gerne auch in einigen Jahren noch erinnern
will - genau wie es Sophia gerne tut ... thank you, bitches!
(c)
2002 Gerd M. Fuchs
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